klau|s|ens, der prozess gegen heinrich boere nähert sich dem ende.
ich weiß, ich weiß – aber wir wissen nichts.
wir haben doch einiges erfahren.
sicher, viele bruchstücke, aber immer nur aus den dokumenten. es ist aber ein täter anwesend, der uns vieles erzählen könnte, wenn ihm die 88 jahre lebenszeit nicht dabei hinderlich sind.
ist dir nichts aufgefallen?
was?
der prozess vergisst die schrecken.
tut er das?
man sitzt da, man hat einen raum, es ist geheizt, der regen bleibt draußen, der angeklagte wird medizinisch betreut. vor dem gerichtssaal ist die cafeteria, wo ich mir jederzeit café holen kann. oder ein belegtes brötchen.
was willst du sagen?
es ist die routine von raum und akten und aussagen. die verbrechen kommen vor, aber sie kommen auch nicht vor.
und weiter?
der angeklagte ist da, aber er ist auch nicht da.
wo ist er denn?
er sitzt da, aber er redet ja nichts. irgendwann guckt man gar nicht mehr hin. es ist ein prozess, der eigentlich ohne den angeklagten stattfindet. er sitzt da, aber man nimmt ihn kaum noch war. man hat sich an den menschen im rollstuhl gewöhnt wie an einen alten schrank im keller.
dann verschwinden die verbrechen?
irgendwie ja. sie werden verlesen, wenn protokolle von verhören verlesen werden. aber die verbrechen sind gar nicht so schlimm, wie sie waren. alles bekommt etwas geglättetes. es bleibt der text. und der ist auch schon seltsam verkürzt. jedes polizeiprotokoll ist eine verkürzung des geschehens.
das ist die gefahr!
genau: es ist die gefahr. alles scheint normal. da ein mord, hier ein mord, mal im september 1944, mal in einem anderen monat. so war es eben. die dinge drohen, beliebig zu werden.
du möchtest aber, dass man sich erinnert, dass es verbrechen waren.
ja, aber zugleich weiß ich, dass die justiz nur „überleben“ kann, wenn sie die gefühle aus all den dingen wieder rausnimmt. „recht sprechen“ ist schwer, wenn man „aufgekocht“ ist.
also, was willst du nun?
ich meine nur: boere verschwindet. die taten. der täter. der schrecken. du musst dir mal vorstellen, gleich klingelt einer bei dir, oder zwei, fragen dich nach deinem namen … und dann schießen sie auf dich.
und andere schreien. diejenigen, die zeugen der taten sind. kinder verlieren den vater. frauen den ehemann. es ist grausam.
genauso: das ist grauslich. und egal, ob es nun 48 oder 50 oder 54 erfolgreiche bzw. versuchte silbertannen-morde waren. diese ganze aktion ist und war bösartig und unmenschlich.
ich weiß.
genau das aber sollte in so einem prozess nicht in vergessenheit geraten. mord ist kein bagatelldelikt. man denkt ja oft: die haben so viele menschen dann vergast, da ist ein gewöhnlicher mord eine andere kategorie. man stellt seltsame vergleiche an.
die schrecken des nationalsozialismus hatten so gigantische ausmaße, dass man dazu neigt, alles falsch zu relativieren.
genau so. ich wünschte mir, dass wir uns das alles vor augen halten und nicht in diesem gewirr von akten und aussagen und protokollen und einem ewig schweigenden heinrich boere allesamt in der (vermeintlichen) belanglosigkeit der verbrechen untergehen.
„belanglosigkeit der verbrechen“?
nein, nein, ich meine es nicht so. sie sind NICHT belanglos. ich meine es so, dass man nach vielen prozesstagen als prozessbeteiligter und als zuschauer so empfinden kann: ach, diese verbrechen da! man wird routiniert und abgestumpft.
dann ist abstumpfung eine gefahr für uns alle?
aber ja, zumal jeden tag neue verbrechen passieren. und diese NS-verbrechen waren so zahlreich und so viele. wenn ein gefangener fast tot getrampelt wird, auf dem hof eines KZ … dann ist das eine abscheuliche und widerliche tat. das ist quälerei und folter und so … und man sollte das nicht kleinreden, weil es noch so viel schlimmere und abscheulichere dinge unter der NS-herrschaft gegeben hat. dieses relativitätsproblem umgibt alles. dabei ist schon ein einziger von menschen an anderen menschen zugefügter schmerz etwas bösartiges.
ich denke, wir haben deinen kerngedanken nun verstanden. man neigt dazu, schlimmste verbrechen als weniger schlimm anzusehen, weil es ja noch diese unvorstellbar inhumane „endlösung“ gab. das allerschlimmste! das systematische ausrotten einer ganzen volksgruppe!
danke. ja, ja, du verstehst mich. am liebsten wäre mir, boere würde alle seine erinnerungen zusammenrufen und dann in aller wahrhaftigkeit eines 88-jährigen alles erzählen, was er tat und was er wusste. alles auspacken. reden, reden, reden. wie bei einer beichte. alles raus! würde er wahrlich bereuen, was er tat, und würde er das wahrlich auch zum ausdruck bringen, wäre das noch besser und passender.
du meinst, mit blick auf die kommenden generationen.
ja, denn denn die aufklärung von heute dient teils dazu, an die opfer und deren angehörigen einen kleinsten (mini)teil von einer art „wiedergutmachung“ zu geben. (es lässt sich ja nichts wiedergutmachen! aber man kann die narben etwas schneller heilen lassen, wobei solche narben niemals weggehen. höchstens weniger schmerzen.)
und wozu dienen die urteile noch?
dass die nachgeborenen solche verbrechen NIE MEHR begehen … oder zulassen, dass sie begangen wären.
ja, auch das hoffen wir immer. und doch: der spuk geht irgendwann immer von vorne los. ganz so optimistisch wie du kann ich kaum sein. rohe gewalt findet leider immer wieder nachahmer und fürsprecher.
LIVE-GEDICHTE: KLAUSENS BEIM HEINRICH-BOERE-NS-KRIEGSVERBRECHERPROZESS IN AACHEN http://www.klausens.com/klausens-beim-boere-ns-kriegsverbrecherprozess-in-aachen.htm
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